Die Malerei der britischen "Präraffaeliten", eine problematische Kunst zwischen engagiertem Realismus und morbider Zeitflucht, wird wieder hoch geschätzt und
(jetzt in Baden-Baden) ausgestellt.

Sie wirkten zunächst, "um es geradeheraus zu sagen, abstoßend" ("The Times" 1850) und wurden doch, nur wenig später, vergötterte Mode- und Karrierekünstler ihrer Zeit. Dann wiederum, als die Viktorianische Epoche zu Ende war, verschwanden sie im Schreckenskabinett des allgemein belächelten Ungeschmacks: Englands "Präraffaeliten".

Das Pendel schwingt, nun sind sie wieder wer.

Am Kunstmarkt werden Rekordgebote für die Historien und Allegorien so schöner Malerseelen wie Dante Gabriel Rossetti, Holman Hunt oder Edward Burne-Jones notiert: Bei Sotheby"s stieg im vergangenen März ein Früh- und Hauptwerk der Richtung. Hunts "Rienzi" (1849), auf 48000 Pfund. und der Münchner Präraffaeliten-Händler Michael Hasenclever verzeichnete Preisverdoppelungen innerhalb eines Jahres.

Das kommt davon, daß englische Museumsdirektoren sich während des vergangenen Jahrzehnts nach und nach auf die Ankäufe ihrer Vorvorgänger besonnen Lind die wichtigsten Präraffaeliten seit 1964 in Einzelausstellungen gewürdigt hatten. Vor einem halben Jahr kam endlich Rossetti, das ungekrönte Haupt der Gruppe, in der Londoner Royal Academy an die Reihe.

Auch war Anfang 1972 eine Spitzenlese präraffaelitischer Kunst zusammen mit anderer Briten-Malerei im Pariser Petit Palais zu sehen. Die erste große Spezial-Schau außerhalb des Mutterlandes zeigt aber nun ein besonders versierter Wünschelrutengänger des deutschen Kunstbetriebs, Klaus Gallwitz, in der Kunsthalle Baden-Baden: ein Ausstellungsschlager nach Art dieses Hauses wie vordem Dali und die russischen Realisten.

Wer freilich die Galerie legendärer Jungfrauen, verklärter Jesusfiguren und bedrückter Bürgertypen (204 Exponate) abschreitet, wird keineswegs jeden Vorbehalt gegen diese Thesen- und Posenkunst gleich widerlegt finden; sie lädt viel öfter zu distanzierter Analyse als etwa zu kulinarischem Schwelgen ein. Die Wirkung der Präraffaeliten bleibt mindestens so zwiespältig, wie es die Tendenzen der Bewegung zu Lebzeiten waren.

Tatsächlich ist weder der Kreis der präraffaelitischen Künstler noch gar ein Gruppenstil präzise abzugrenzen. im Gegensatz zu ihren Vorläufern, den deutschrömischen "Lukasbrüdern" oder "Nazarenern", hatten die sieben jungen Leute, die sich 1848 in London zur "Präraffaelitischen Bruderschaft" zusammenfanden, kein verbindliches Programm und gingen bald wieder getrennte Wege. Gemeinsam war ihnen der (allerdings auch sonst grassierende) Hang zu moralischen und literarischen Sujets sowie eine Bewunderung für die linear betonte mittelalterliche und frühneuzeitliche Kunst "vor Raffael".

Verquickt damit regte sich ein halb romantisches, halb wissenschaftliches Streben nach Natur-Wahrheit. Die Präraffaeliten, so schrieb ihr einflußreicher Parteigänger John Ruskin, "versuchen, was sie in der Natur erblicken, mit dem höchsten Grad der Vollkommenheit zu malen". Und im kurzlebigen Vereinsblatt "The Germ" gab der Maler Ford Madox Brown, Präraffaelit ohne formelle Mitgliedschaft, pedantische Rezepte an, wie durch gewissenhaftes Quellen- und Modellstudium ein Höchstmaß an Realismus zu erreichen sei.

So malte Brown, seiner Lehre treu, das Bild "Der letzte Blick auf England", das ein junges Paar mit Regenschirm auf einem Segelschiff zeigt, ausschließlich bei schlechtem Wetter und im Freien. Er kam sich "vom Glück begünstigt" vor, wenn scharfer. Wind "meine Hand blau vor Kälte aussehen ließ, wie ich es im Bild brauche": Der Maler selbst und seine Frau posierten als Passagiere.

Angeregt war das Werk vom Schicksal des Präraffaeliten Thomas Woolner, der 1852 wie viele Briten damals aus sozialer Not nach Australien emigrierte -ein Zeit-Thema also, doch in erklügelter und mit Modellen nachgestellter Komposition.

Nach diesem Verfahren waren noch ganz andere Themen mit Wahrheitsanspruch zu bewältigen. Der fromme Holman Hunt fuhr im Interesse topographischer Genauigkeit nach Palästina und malte einen struppigen "Sündenbock" am Strand des Toten Meeres. Akademie-Absolvent John Everett Millais, die dritte Hauptfigur des Gründerzirkels neben Hunt und Rossetti, ging, um "Christus im Haus seiner Eltern" malen zu können, in eine Schreinerwerkstatt. Als Josef konterfeite er den Tischlermeister, setzte ihm jedoch den Kopf seines eigenen Vaters auf.

Dieses Bild, obwohl auch unübersehbar mit religiösen Symbolen ausstaffiert, machte wegen seiner "ekelerregenden Genauigkeit" Skandal, als es 1850 in der Royal Academy gezeigt wurde. Romancier Charles Dickens zeterte, die gemalte Gottesmutter würde "in der gemeinsten Schnapsbude als ein Scheusal hervorragen".

Der Künstler mochte sich trösten: Das Gemälde war schon vor der Eröffnung, gut verkauft und wurde durch die Verrisse so berühmt, daß angeblich sogar die Queen, gerade wieder mal wochenbettlägerig, es sich zur Besichtigung bringen ließ. Zehn Jahre später glänzte Millais schon als virtuoser Gesellschaftsmaler.

In die Niederungen des Alltagslebens, sei es auch symbolisch überhöht, stieg Dante Gabriel Rossetti von vornherein nur ausnahmsweise und unentschlossen hinab; sein einziges Zeit- und Sitten-Gemälde ("Faund"), eine gefühlvoll moralisierende Dirnenszene, blieb unvollendet.

Strikter noch als andere Präraffaeliten hielt sich der Sohn eines aus Italien eingewanderten Literatur-Professors, der selber Dantes "Vita nuova" ins Englische übertrug und auch als Lyriker produktiv war, an die Devise, das "vornehmste Bild" sei ein "gemaltes Gedicht". Außer Dante und Shakespeare mußten zeitgenössische englische Poeten die Themen liefern.

Als Beatrice, Mariana oder "Jungfrau vorn heiligen Gral" brachte Rossetti einen zugleich noblen und sinnlichen Frauentypus ins Bild, der für einen großen Teil der Präraffaeliten-Kunst vorbildlich wurde.

Anfangs porträtierte er unermüdlich und oft auch ohne den Vorwand literarischer Rollen seine Freundin, dann Ehefrau, die ätherische Elizabeth Siddal (die für Millais in einer Badewanne als Ophelia Modell lag). Bei ihrem frühen Tod (1862) ließ er seine Gedichte mitbestatten, sieben Jahre später aber erfolgreich exhumieren. Rossettis bevorzugtes Modell wurde nun Jane Morris, eine brünette Reitknechtstochter mit vollen Lippen, deren "Hals, zehn Küsse lang", der Maler in Versen lobte.

Verheiratet war sie mit dem Künstler, Schriftsteller und Sozialisten William Morris -- einem Mitglied jenes Kreises, der sich gleichsam als Rossetti-Fraktion der Präraffaeliten in Oxford gebildet und dort auch ein gemeinschaftliches Fresken-Werk zustande gebracht hatte. Der talentierteste Adept, Edward Burne-Jones, erteilte der realistischen Tendenz von 1848 eine pointierte Absage:

"Nachahmungen der Natur? Was soll ich mit Nachahmungen? Ich meine mit einem Bild einen schönen romantischen Traum von etwas, das niemals war, niemals sein wird, in einem Licht, das keiner benennen oder erinnern kann, nur ersehnen, und von göttlicher Schönheit."

1875 erhielt Burne-Jones vom späteren Premierminister Balfour den ruhmreichen Auftrag, einen ganzen Empfangssaal mit Szenen aus der Perseussage (nach einem Morris-Epos) auszuschmücken~ er tat es in edler Stilisierung und dekorativer Morbidezza.

Derselbe Künstler war aber auch mit Fenster- und Teppichentwürfen für eine Kunsthandwerks-Firma und mit Holzschnitt-Illustrationen für einen bibliophilen Verlag tätig -- beides Morris-Gründungen, in denen Mittelalter-Heimweh und volkspädagogische Absichten sich seltsam mischten. Die unmittelbare Vorstufe zum englischen Jugendstil war erreicht.

in den Rankenschwüngen jener Mode lebte auch die Schönlinigkeit von Rossetti und Burne-Jones nach; andere Präraffaeliten-Malerei, etwa Hunts bengalisch beleuchteter Jesus ("Das Licht der Welt"), wurde gerechterweise in billigen Öldrucken verschlissen.

Der Rückgriff auf die Originale, als Inventur einer Kunst abseits der dominierenden Entwicklungslinie jedenfalls verdienstvoll, kann heute noch befremdlich oder auch belustigend wirken. Allzu tief steht die formale Lösung oft im Schatten der literarischen Idee.

Unbezweifelbare Meisterwerke sind dennoch zu entdecken -- allerdings seltener in repräsentativen Tafelbildern als vielmehr (so bei Rossetti und Millais) im weniger ambitiösen Medium der Zeichnung.

Kunsthallendirektor Gallwitz, der unter anderem mit dem achtteiligen Perseus-Zyklus von Burne-Jones (1971 von der Stuttgarter Staatsgalerie angekauft, aus Platzmangel jedoch nicht dauernd ausgestellt) prunken kann, trauert deswegen auch nicht allzusehr, daß ihm mi übrigen viele berühmte Bilder verweigert wurden.

Manches Hauptwerk wie Browns "Letzter Blick auf England" ist durch die Vorzeichnung ideal vertreten.

Präraffaeliten.
Ausstellung16. März bis 5. Mai 1974
Baden - Baden
DER SPIEGEL 49 / 1973
Schöner Traum
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